Laudatio Dr. Martin Pollack

Ohne Übersetzungen ist Literatur undenkbar

Zunächst möchte ich mich für die Einladung bedanken, hier in Düsseldorf ein paar Worte für die heute zu ehrenden ukrainischen Übersetzerinnen zu sagen. Das ist für mich eine große Ehre und eine noch größere Freude.

Wir, die Preisträgerinnen und Preisträger, die Jurorinnen und ich als Laudator sind heute durch Düsseldorf gestreift und schließlich in einem Café gelandet, wo wir viel erzählt, diskutiert und auch gelacht haben. Wir hatten eine gute Zeit. Das fiel der Besitzerin auf und sie fragte, ob es sich bei unserer Zusammenkunft um ein Familientreffen handle?

Ja, gnädige Frau, sagte ich. Wir feiern hier ein ukrainisch-deutsch-österreichisches Familientreffen. Wir begegnen einander nur selten, viel zu selten, doch wenn wir wieder einmal zusammenkommen wie heute, dann ist das umso schöner.

Es ist bald zwanzig Jahre her, dass ich in Krakau in der Villa Decius ein paar Monate verbrachte, um Material für ein Buch zu sammeln. Eine geruhsame, fruchtbare Zeit. Von den anderen Stipendiaten, die damals in der Villa zu Gast waren, ist mir besonders ein junger ukrainischer Autor in Erinnerung: Nazar Hončar. Ein liebenswerter, bescheidener und heiterer Dichter, sprühend vor Witz und bizarren Einfällen, der als Performance-Künstler über die Ukraine hinaus Bekanntheit erlangte. Gern gab er den Spaßvogel, dann wieder war er in sich gekehrt und melancholisch. Wir wurden rasch Freunde.

Oft saßen wir in der gemeinsamen Küche beisammen, kochten, tranken und lachten und erzählten Geschichten. Nazar sprach gern von seiner Heimatstadt Lwiw und dem dortigen literarischen Leben, das er in bunten Farben malte. Dabei kam die Rede auch auf Übersetzungen, denen er große Bedeutung zumaß. Ohne Übersetzungen, so Nazar, sei Literatur völlig undenkbar.

Ich war erstaunt, wie gut er die deutschsprachige Literatur kannte, vor allem die zeitgenössische Dichtung. Er verwies auf seine Frau, Chrystyna Nazarkewytsch, die aus dem Deutschen ins Ukrainische übersetzt, von ihr habe er viel gelernt. Wenn die Rede auf sie kam, geriet er förmlich ins Schwärmen, er rühmte ihr beharrliches Bemühen, ukrainische Leser mit wichtigen Werken deutschsprachiger Autoren bekanntzumachen und auf diese Weise ihr Bewusstsein für die Zugehörigkeit der Ukraine zur westlichen Kultur und zu westlichen Traditionen zu stärken. Wir haben immer schon zum Westen gehört, sagte er dann, egal, was man im Osten darüber denken mag.

Chrystyna lernte ich erst Jahre später kennen, ich glaube, das war nach dem tragischen, viel zu frühen Tod Nazars.

An diese Begegnung vor vielen Jahren musste ich denken, als ich gebeten wurde, ein paar Worte über die hier versammelten ukrainischen Übersetzerinnen und Übersetzer zu sagen, die heute mit dem Literaturpreis der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen – Straelener Übersetzerpreis 2023 ausgezeichnet werden: Mark Belorusez, Chrystyna Nazarkewytsch, Halyna Petrosanyak, Roksolana Sviato und Nelia Vakhovska. Es ist für mich eine große Ehre, ihnen an dieser Stelle für ihren unermüdlichen Einsatz für die deutschsprachige Literatur danken zu dürfen. Ohne ihr Engagement und ihre gar nicht hoch genug einzuschätzende Arbeit – ja, Übersetzen bedeutet Arbeit, oft harte und nur allzu selten genügend gewürdigte Arbeit – wäre es um den geistigen Austausch zwischen unseren Ländern nicht gut bestellt. Freilich gibt es auch so noch genügend weiße Flecken und blinde Winkel, vor allem was unser Wissen um die Ukraine und die ukrainische Literatur angeht.

Übersetzer sind stille Vermittler über Grenzen hinweg, sie bleiben zumeist im Hintergrund und drängen sich nicht vor, und doch sind sie unersetzlich für einen lebendigen Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Sprachen und Traditionen. Es mag banal klingen, Übersetzer, ähnlich wie Schriftsteller, als Hüter des freien Wortes und selbstlose Diener zweier Kulturen zu bezeichnen, doch genau das trifft auf unsere Preisträger zu. Sie haben die Auszeichnung wahrlich verdient, und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass wir tief in ihrer Schuld stehen. Vielen Dank aus ganzem Herzen nochmals!

 

Es ist hier nicht der Platz, auf das Leben und Werk der Geehrten mit der nötigen Sorgfalt und Ausführlichkeit einzugehen, das würde den Rahmen einer Laudatio sprengen. Daher nur kurze Skizzen, oberflächlich und ungebührlich gerafft.

Die Eltern von Mark Belorusez, so erzählt er, sind in den 1920er Jahren aus einem Shtetl nach Kiew gekommen. Der Doyen der ukrainischen literarischen Übersetzer hat sich schon vor über dreißig Jahren „with the disease of Translation“ angesteckt, mit „der Krankheit des Übersetzens“, wie der englische Dichter und Übersetzer des 17. Jahrhunderts, John Dryden, das nennt. Das Hauptwerk von Mark Belorusez sind die Übertragungen deutscher Gedichte in seine Muttersprache Russisch. Ja, Russisch, das nun einmal einen in der Geschichte verankerten Platz als zweite Sprache der Ukraine einnimmt. Der mörderische Vernichtungskrieg, den Putins Russland gegen das Land vom Zaun gebrochen hat, hat die Position des Russischen ins Schwanken gebracht, ja vielleicht überhaupt in Frage gestellt. Allerdings ist zu hoffen, dass die nur zu verständliche Ablehnung Russlands nicht auch die Literatur erfasst, voran jene, die sich nicht in den Dienst der Aggression und des großrussischen Chauvinismus einspannen lässt. Literatur und Übersetzung, die diesen Namen verdienen, werden immer gegen Krieg, Mord und Zerstörung protestieren, obwohl sie dem nur die Macht des Wortes entgegensetzen können. Auf den ersten Blick mag das lächerlich wenig erscheinen, doch in Wahrheit wohnt dem unabhängigen Wort eine ungeheure Kraft inne. Mark Belorusez ist dafür mit seiner Haltung, seinem ganzen Schaffen der lebende Beweis. Mit welchem poetischen Einfühlungsvermögen und welcher Sprachkunst er die Gedichte von Paul Celan zu übertragen versteht, zeigt eindrucksvoll, was literarische Übersetzung vermag.

Die hier bereits angesprochene Chrystyna Nazarkewytsch ist in allen Genres tätig, in ihrem umfangreichen Werkverzeichnis finden sich Sachbücher ebenso wie Romane und Lyrik. Ihre Übersetzungen von Terézia Mora und Ilma Rakusa, um nur zwei Namen zu nennen, haben wichtige Diskussionen über Transkulturalität und Mehrsprachigkeit angestoßen, Themen, denen angesichts des Krieges, in dem die Identität der Ukraine auf dem Spiel steht, heute besondere Bedeutung und Tragweite zukommt. Gerade in diesen für die Ukraine so düsteren Zeiten scheint es geboten, sich trotz aller Widrigkeiten auf die Literatur zu besinnen. „Das Schreiben widerspricht dem Tod“, stellt der Autor Serhij Zhadan im Nachwort zu seinem zuletzt erschienenen Werk „Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“ fest. Und weiter: „Der Wunsch, Gefühle und Bedeutungen festzuhalten, Erzählungen zu umreißen, Motive nachzuerzählen, verträgt sich überhaupt nicht mit der Idee von Zerstörung, Vernichtung, Verschwinden.“

Das gilt natürlich auch für die literarische Übersetzung, der sich Chrystyna Nazarkewytsch mit so viel Engagement verschrieben hat. Wir wünschen ihr und den anderen hier Geehrten, dass sie bald wieder zu einem Leben in Normalität zurückkehren können. Das heißt auch zum Übersetzen, das in Zeiten der tödlichen Bedrohung naturgemäß zurücktreten muss.

Halyna Petrosanyak, Lyrikerin, Prosaautorin und Übersetzerin, wurde in einem Dorf in den Karpaten in der Region Werchowyna geboren, mehrheitlich bewohnt vom Bergvolk der Huzulen, deren reiche Traditionen und Mythen in ihre Gedichte einfließen. Ihr besonderes Interesse als Übersetzerin gilt deutschsprachigen Autoren, die aus Ostgalizien stammen oder sich mit dieser ethnisch und sprachlich gemischten Welt auseinandergesetzt haben. Eine versunkene Welt, für immer vernichtet durch das Wüten zweier Kriege und Totalitarismen. Diese Welt wird in den von Halyna Petrosanyak übertragenen Werken beschworen. Dazu zählen Alexander Granach, Da geht ein Mensch, Soma Morgenstern, In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien, Anatol Regnier, Damals in Bolechów, oder Elisabeth Freundlich, Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau. Mit ihren Übersetzungen leistet Halyna Petrosanyak wichtige Erinnerungsarbeit, indem sie die jahrzehntelang verschüttete und von der Politik tabuisierte Vergangenheit des ehemaligen Ostgaliziens, wiederaufleben lässt. Sie hat in Stanislau, polnisch Stanisławów, ukrainisch Stanislawiw, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, studiert und das dynamische literarische Leben der Dichterstadt mitgeprägt. Sie gehörte der losen Gruppierung, bekannt als „Phänomen Stanislau“ an, zu der auch als vielleicht bekanntestes Vertreter Juri Andruchowytsch zählt, der übrigens ebenfalls aus dem Deutschen übersetzt, etwa Gedichte von Rilke.

Wir nehmen mit Bewunderung zur Kenntnis, wie viel in der Ukraine bis heute aus der deutschsprachigen Literatur übertragen wurde und wird. Eine herausragende Persönlichkeit auf diesem Gebiet ist die hier ausgezeichnete Roksolana Sviato. Eine vielfältige, in allen Genres beheimatete Übersetzerin, gerüstet mit fundiertem historischem und literaturgeschichtlichem Wissen, das sie befähigt, selbst die anspruchsvollsten Texte stilistisch sicher und getreu zu übertragen. Etwa von Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage oder Essays über Fotografie von Walter Benjamin. Aus der österreichischen Literatur nahm sie sich unter anderem Werke von Hertha Kräftner oder von Ingeborg Bachmann vor. Erwähnen möchte ich hier noch ihren schönen Essay mit dem Titel Kyiv als meine Übersetzungsstadt. Palimpsest oder tabula rasa? – eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt, in der sie auch auf die hier beheimatete Übersetzerszene verweist und wichtige Personen nennt, wie das Ehepaar Jewhen Popowytsch und Olha Senjuk, die so bekannte Kinderbücher wie Wir Kinder aus Bullerbü und Ronja Räubertochter übertragen hat.

Da ich die Namen dem Alphabet nach vortrage, bleibt noch Nelia Vakhovska zu nennen, der ich ganz persönlich zu besonderem Dank verpflichtet bin, da sie sich schon früh meiner eigenen Werke angenommen hat, wodurch sie, wie in der Jurybegründung zu lesen steht, „den ukrainischen Leserinnen und Lesern den Zugang zur Auseinandersetzung mit der ostmitteleuropäischen Erinnerungskultur“ eröffnete. Es sei mir verziehen, dass ich in sträflicher Eitelkeit diesen Satz hier zitiere. Mindestens ebenso wichtig sind ihre Übersetzungen von Josef Winkler, Esther Kinsky oder Arno Schmidt. Für ganz praktische Fragen betreffend die Arbeit von Übersetzern in der Ukraine, engagiert sich Nelia Vakhovska als Mitbegründerin des Vereins Translators in Action. Seit Ausbruch des „heißen“ Krieges Russlands gegen die Ukraine vor über einem Jahr, der eigentlich bereits 2014 begonnen hat, was im Westen weitgehend ignoriert wurde, schreibt sie Berichte aus und über ihr geschundenes Land für ausländische Medien.

 

Wenn wir über die ukrainische Literatur und ukrainische Übersetzer sprechen, dürfen wir nicht unerwähnt lassen, dass auf diesem Gebiet ein beschämendes Ungleichgewicht herrscht. Während in der Ukraine, wie  gesagt, traditionell viel aus dem Deutschen übertragen wurde und wird, stand die ukrainische Literatur in unseren Ländern lange Zeit im Schatten und fand nur wenig Beachtung, was sich auch in der geringen Zahl publizierter Übersetzungen niederschlug. Selbst wichtige Autoren fanden nur in Ausnahmefällen Verlage und kaum Rezensenten, ein Ausdruck der tiefen Ignoranz gegenüber dem Land und seinen geistigen Vertretern. Noch vor ein paar Jahren fragte mich eine bekannte österreichische Publizistin, ob die Ukraine tatsächlich ein eigenständiges Land sei und Ukrainisch eine eigene Sprache?

Dieser beklagenswerte Zustand hat sich seit einiger Zeit deutlich verbessert. Das ist das Verdienst einzelner Personen, engagierter Übersetzerinnen, Lektorinnen (wir alle wissen, wen ich hier in erster Linie meine), Publizistinnen und natürlich auch mutiger Verlage, die vorgeprescht sind. In diesem Zusammenhang müssen auch die ukrainischen Übersetzer genannt werden, die es sich gleichsam selbstverständlich zur Aufgabe machen, als literarische Scouts tätig zu sein und Interessierte mit Hinweisen auf interessante Autoren und Titel zu versorgen. Auf diese Weise gelingt es immer wieder, Übersetzungen anzustoßen. Die hier Ausgezeichneten gehören zu diesem zunehmend dichter werdenden Netzwerk – auch dafür sei ihnen an dieser Stelle gedankt.

Die heutige Feier ist ein schöner Anlass, ukrainische Übersetzer vor den Vorhang zu bitten. Doch wir alle wissen, dass wir über der damit verbundenen Freude die bedrückende Realität nicht aus den Augen verlieren dürfen. In der Ukraine herrscht Krieg, das Land und seine Bürger kämpfen buchstäblich ums Überleben. Putin und seine Gefolgsleute tun alles in ihrer Macht Stehende, um das Land zu vernichten und in eine Wüste zu verwandeln, seine Souveränität und Unabhängigkeit auszuradieren, und damit auch seine kulturelle, geistige Eigenständigkeit, mit allem, was damit verbunden ist. Die russische Kriegsdoktrin, von Putin und seinen Propagandisten verkündet, spricht der Ukraine die Existenzberechtigung ab. Russen und Ukrainer, so Putin, seien eine Nation, sie stellten eine Einheit dar, was nichts anderes als die Auslöschung der Ukraine bedeuten würde. Die Ukraine, so wird in Moskau mantrahaft wiederholt, habe nie eine eigene Geschichte und Kultur besessen und sei nichts weiter als ein Grenzland des großen russischen Reiches, mit diesem untrennbar und für ewige Zeiten verbunden.

Ein paranoides Narrativ, das eine ganz reale und tödliche Bedrohung für das Land und seine Bürger enthält. Kulturschaffende, Autoren und Übersetzer, sind dabei besonders gefährdet, denn der Diktator in Moskau betrachtet alle Verfechter einer unabhängigen ukrainischen Kultur und eigenständigen Sprache als Todfeinde, die es zu beseitigen gilt. Er fürchtet, das Beispiel der freien Ukraine könnte in Russland Schule machen.

Es ist schier unerträglich, an einem Tag wie diesem, an dem wir eigentlich feiern sollten, an Tod und Zerstörung denken zu müssen. Doch die Wirklichkeit ist unerbittlich. Wir haben viel zu lange weggeschaut und geschwiegen. Wir wollen die heutige Ehrung zum Anlass nehmen, unseren ukrainischen Freundinnen und Freunden noch einmal für alles zu danken, was sie im Geist der Verständigung geleistet haben. Das ist viel, unendlich viel. Und wir wollen sie unserer Solidarität versichern. Wir werden nicht nachlassen, ihnen nach Kräften beizustehen, wann und wo auch immer.

Über all diesen schweren Worten wollen wir den eigentlichen Anlass dieser Begegnung nicht vergessen. Es gilt, den fünf Geehrten den Literaturpreis der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen – Straelener Übersetzerpreis 2023 zu überreichen und ihnen gebührend zu dieser wunderbaren Auszeichnung zu gratulieren.

 

 

 

Dr. Martin Pollack, Düsseldorf im März 2023