Laudatio Julia Franck

Where the trap snaps and fear falls into space, spines collide. And the other’s power sinks deep inside1

Liebe Katy Derbyshire, lieber Simon Pare, verehrte Jury und ein herzliches Willkommen an unser Publikum,

wenn wir heute zusammentreffen und das Werk einer Sprachkünstlerin, der Übersetzerin Katy Derbyshire und des Übersetzers Simon Pare preisen, so erlauben Sie mir als Laudatio das Portrait der Liebenden.

Ohne Liebe zur Literatur, zur englischen wie zur deutschen Sprache, kann es kaum einen Roman, ein Gedicht, Literatur geben, aus der eine exzellente Übersetzung spricht. Anders als Google und Apple mithilfe der nutzbaren Künstlichen Intelligenz und der Rechenleistung im Laufe der kommenden Jahrzehnte zwar das bloße Übersetzen Wort für Wort und einer Syntax bis hin zu Redewendungen optimieren wird, verlangt das Literarische Schreiben im Ursprung wie in der Übersetzung und jeder Resonanz die einzelne Seele. Poesie kann nur im individuellen menschlichen Hirn entstehen, mit seiner unverwechselbaren und von Chronologie und Raum, Körper und Empfindung bestimmten Lese- und Lebenserfahrung, aus der sich seine subjektiven, zutiefst menschlichen Verknüpfungen ergeben: Erkennen und Erkenntnis, Wahrnehmung und Wiedergabe, das Erzeugen von Welt zwischen Ich und Du. Erst die Induktion von Text und seinem Leser, der nicht anders als subjektiv, interpretierend und also verinnerlichend und übersetzend lesen kann, entfacht Begeisterung.

Love German Books heißt Katys Blog, über den sie – anders als ein Computer oder ein nach Stundenlohn Angestellter und Auftragnehmer – ihre Leidenschaft und Neugier am literarischen Leben zwischen unseren beiden Sprachen teilt.

Bereits im Frühsommer 2013 muss es gewesen sein, befragt nach den „fünf Büchern“, die sie nicht mehr hergeben und ohne die sie nicht mehr leben wolle, dass Katy bekannte:

Im August kommt Meyers neuer Roman heraus und er wird Preise gewinnen, das sage ich jetzt schon. Ein Pate im Leipziger Prostitutionsgewerbe, sein Aufstieg und Fall, mit einer riesengroßen Personalbesetzung wie bei Cecil B. DeMille. Meyer hat sehr viel recherchiert und zieht hier alle Register, vom versteckten Leitmotiv zum Bewusstseinsstrom, von Reim und Alliteration zu ganzen Szenen, die vielleicht doch nicht passiert sind. Ich durfte das Manuskript lesen und musste mein Leben eine Woche lang aufschieben: nichts ging mehr! 

Hier wirbt eine Braut. Ihre Annonce gilt nicht einfach linear und geschlechtlich dem Autor Clemens Meyer, sondern seinen Figuren und seinem Werk. Diese Braut und Übersetzerin Katy Derbyshire wird den Roman übersetzen und die Frucht dieser phantastischen polyamourösen Hochzeit ist Bricks and Mortar, eine Literatur, die, wie jedes übersetzte Werk, von zweien geschrieben worden ist, die keinen einzelnen Urheber mehr kennt. Katys Hirn feiert Hochzeit mit Meyers „Im Stein“, und ihr Bricks and Mortar ist das glänzende Ergebnis ihrer am Leben und Lesen in Berlin geeichten Sprachwelt. Wer Übersetzer von Literatur wird, muss Sprache lieben. Er muss sie nicht nur kennen und nutzen, er muss sich frei in ihr bewegen, erfinden und sich auf alle Spielarten mit dem Original vereinen: das Lesen und Erzählen und Plaudern, das Malen mit Lauten und Bedeutung, nüchtern und poetisch, Murmeln und strenge Formulieren, das gekonnte Beherzigen als auch Brechen mit den Regeln der Kunst. Der Rhythmus beider Liebesspiel wird ein neuer sein, er wird Elemente des ursprünglichen Werks enthalten und doch in ganz anderen sprachlichen Volten und Zäsuren erscheinen. Mehr noch, die Übersetzerin kann sich nicht einfach dem Liebesglück ergeben, sondern muss mit ihrem Werk, dem gemeinsamen, durch Krisen der Entwicklung gehen, durch dick und dünn, an guten wie an schlechten Tagen. Sie wird Unstimmigkeiten und absichtslose Schrägen (ja, Fehler!), wenn nicht Augenblicke zäher und zermürbender Alltäglichkeit in dieser Liebe erfahren, und dafür verantwortlich sein, dass manche Unstimmigkeiten im Zuge der Übersetzung bereinigt werden, andere hingegen versehentlich oder notwendig hinzukommen. Den perfekten Roman gibt es so wenig wie den perfekten Menschen.

Wenn Katy schwärmt, Meyer zöge in „Im Stein“ alle Register, so meint sie dies zweifellos im Sinne der Musik, der Literatur, die unterschiedlichste Register aufruft. Doch jeder noch so gelungene Roman zeigt im Verlauf einer Übersetzung zwangsläufig seine herausstechenden Stärken und aufregenden Besonderheiten in Relation zu seinen Schwächen, manch überflüssigen Worten, und langweiligen Allgemeinplätzen. Literatur ist ein Gebilde aus Wortfeldern, Strom, Tempo und Rhythmus, Dramaturgie, Witz und Tiefe, Referenzen zu alltags-, milieu-, kinder- und jugendsprachlichen sowie lyrischen und politischen Farben.

Wollen wir Katys Kunst und Fähigkeiten erforschen, wenden wir uns der Plastizität ihrer Sprachwelt und deren Eichung zu. Ihre Übersetzungen ermöglichen das Wiedererkennen und erste Entdecken von Romanen. Sie schenken ihnen ihre Reise in die große Welt und in all jene Winkel, in denen Menschen kein Deutsch aber Englisch lesen können.

Was hat Katy Derbyshire in den vergangenen Jahren alles gelesen und übersetzt, in welchen Literaturen gelebt und gedacht? Christa Wolf, Simon Urban, Helene Hegemann, Inka Parei, Felicitas Hoppe, Annett Gröschner und immer wieder Clemens Meyer. Selbstverständlich muss ein Übersetzer nicht dauerhaft im Land der Sprache, aus der heraus er in seine Muttersprache übersetzt, wohnen. Doch es hat nicht geschadet. Vermutlich konnte Katys sprachliche Entwicklung mitten im gegenwärtigen Berlin der Nachwendezeit und entlang der unzähligen Literaturen, die sie liest, nur hier diese ungeheure Verfeinerung und Empfindsamkeit wecken, mit der es Katy gelingt, jene leisen Umschwünge zwischen realistischem und surrealem Erzählen in der Sprache eines Clemens Meyer wahrzunehmen. Derbyshires Übersetzung offenbart dem englischen Leser den Wechsel von Temperatur und Rhythmus des deutschen Textes, die Entwicklung eines melodischen und auch motivischen Themas, die Varianten und Verschiebungen aus der deutschen in der englischen Sprache. Als hoch sensible Kennerin deutscher Literatur wie auch seinem gesprochenen Wort ermittelt sie das typisch Meyersche Oszillieren zwischen nüchtern rauer Alltagssprache und jenem darin enthaltenen romantischen Samt, der zwar immer wieder traumentrückt, aber nie allein sentimental und nostalgisch wirkt. Es sind die zarten und wachen, ja unmittelbaren und inmitten einer Betonödnis sanften Momente, die aus einem Alltagsjargon Humor und Melancholie, ja seine für ihn typische Poetik entstehen lassen.

Jede Sprache, Englisch wie Deutsch, macht auf eine ihr eigentümliche Weise Geschichten erzählbar, schlägt Referenzen zur unverwechselbaren Stimme des Autors, zum erzählten Milieu, zu stofflicher und literarischer Etymologie und Evolution.

Es gibt das ostdeutsche (Leipziger) „Milieu“ der Nachwendezeit nicht in England, und selbst da, wo es das Arbeitermilieu in Bradford oder Liverpool gibt, mit seiner Sprechweise und Redensart, so wäre es doch ein ganz anderes Milieu als das der ostdeutschen Glücksritter der Nachwende.

Wo im deutschen Original die plaudernde Alltagssprache mit all ihren Nachlässigkeiten (etwa dem inflationär auftauchenden „aber“) in einigen Episoden von lustvoll eingeworfenen Anglizismen gespickt die Hinwendung zur größeren Welt kennzeichnet, wie sie nicht nur für die Ära der Nachwende im Osten Deutschlands, sondern ebenso an seinen westlichen Säumen (Westdeutschland), ja im Grunde für das ganze nicht-englische Europa typisch ist, da wir uns sprachlich und global über Anglizismen und englische Begriffe, Wendungen, Flüche, Kürzel, Konversationen untereinander vernetzen, selbst in „Tokio im Jahre null“, bleibt das für eine englische Übersetzung kaum nachbildbar. – Exemplarisch ist dies ein Aspekt, der im Sprachfeld der englischen Übersetzung verloren gehen muss. Doch auf andere Weise kippen Meyers Figuren in Katys Übersetzung aus ihren Wurzeln und schießen über sich hinaus, gehen sich verloren und finden sich in der Fremde selbst so nah wieder wie niemanden sonst. Neben den traumähnlichen Episoden der Innenwelten steht der dumpfe Aufschlag in der Wirklichkeit. Meyer-Derbyshires Figuren deklinieren gewandt sämtliche Szenerien und Begriffe des sexuellen Gewerbes, und verfügen auf hyperrealistische Weise über keinerlei Weltläufigkeit, wenn einer plötzlich eine Leiche hat und nicht recht weiß, wohin mit ihr. Bricks and Mortar lässt uns Räume heiterer Stille empfinden, Grotesken trockener Anstrengung und luzider Verrückungen entdecken, den Jargon plumpen Humors wie auch jungenhafte Albernheit hören. Es werden darin nicht einfach atemlose Huren-, Konsum- und Fickgeschichten der kapitalistischen, ach so kalten Nachwendezeit erzählt, sondern im reizvollen Perspektivwechsel die Zeit ausgerechnet in Tokio angehalten, inmitten der Riesenmaschine, wo Etablissement neben Etablissement jedem noch so erschöpften und zeitlos Umhertreibenden auf die Schnelle eine Vision verkauft, die vom schnellen Wett- und Spielglück, vom schnellen Sex, schnellen Fressen. Die Zeit wird angehalten und dehnt sich wie in einem Traum: Where are you? Mit dieser Frage beginnt die Verortung in der weitgehenden und nicht nur unangenehmen Orientierungslosigkeit. Look up. But the sky above you is grey… (408) Und im Zuge dieser traumartigen Zeitdehnung wagt Katy etwas Ungewöhnliches: sie übersetzt die für das Deutsche so typisch langen Sätze mit ihren Einschüben und Nebensätzen in ebenso uferlose Sätze ins Englische, und erzeugt hier jenen Bewusstseinsstrom, dem wir uns nicht entziehen können. Du, das sind wir Leser, das bin ich, und mit dem Ich fliehe ich vor dieser Stimme, die mir erst als Phantasma, dann als Meyer-Derbyshires Erzählstimme und schließlich als Stimme schlechthin erscheint. In diesem Kapitel werden wir Leser zum angesprochenen Du. Ich träume, taumele, fliehe: „auf der Flucht vor der Stimme“ heißt ein Einschub Meyers, wo Katy schlicht und elegant mit nur halb so vielen Worten schreibt „fleeing that voice“ und aus der wunderbaren Möglichkeit im Englischen schöpft, den Verlauf und die Rastlosigkeit durch das Verb-ing zu kennzeichnen. Der Gedankenfluss erweitert sich mit jedem Einfall zu einem immer reißenderen Strom, bis nicht nur Meyer, sondern Katy es schafft, diesem Fliehenden, Treibenden, Mäandernden zu dem wir Leser längst geworden sind, einen schier endlosen Satz über mehr als eine Seite zu widmen (413).

Wenn Meyers eher beiläufig alltäglicher Name für „Steinmann“ zu Katys „Bricks and Mortar Man“ geworden ist, zur Titelfigur, erhält er allein durch diese Bezeichnung „the Bricks and Mortar Man“ etwas Poetisches, das Ernste und Komische. Lese ich Katy Derbyshires Bricks and Mortar neben Clemens Meyers Im Stein scheint mir genau jene komische Melancholie, der oft zugleich nüchterne und rauschhafte Blick auf die Figuren bei Katy noch stärker herausgearbeitet als im Original.

Die gute Übersetzung, heißt es, sei diejenige, durch die man nicht unaufhörlich die Schatten der Originalsprache hindurch erkennt, sondern die sich in Syntax, Rhythmus, Melodie vom Original frei macht, um ebenso eigenständig und eigenwillig ihren Bann in der Zielsprache zu erzeugen. Das klingt, und manche Übersetzer nehmen ihre Verantwortung auch als solche wahr, als müsse der übersetzte Text, besonders wenn er ein Roman ist, am besten noch geschmeidiger und leichter lesbar sein als das Original, glänzender poliert sein. Als erweise sich der gute Übersetzer als besonders gut, wenn er glatte Bügelware abliefert. Ein solches Urteil halte ich für irreführend, ist das in jeder Hinsicht Aufregende großer Literatur doch das Seltsame, die Brüche und Risse, das Schräge und Raue. Übersetzung schärft sich an ihrem Gegenstand. Inhaltlich und sprachlich ist die Jargon-Suada bei Clemens Meyer die des empfindsamen Mannes, dessen Blühende Landschaften der Nachwendezeit durch Sümpfe, Immobiliengeschäfte und Prostitution gezeichnet sind. Unpassend erscheinen mir Vergleiche mit Döblin oder Fichte, da Meyers zeitgenössisches Milieu diesen in vielerlei Hinsicht diesen nicht entspricht. Meyers Figuren sind keine Männer und Frauen von Welt, die in einem herkömmlichen Milieu geboren und lebend, aus einem sozial tradierten Rollenverständnis einer sozialen Klasse zu Helden werden. Im Westen Deutschlands waren solche sozialen Klassen und auch das geschlechtliche Rollenverständnis über die Jahrzehnte der Nachkriegszeit geradezu konservativ verankert geblieben, Akademiker, Bürgertum, Angestellte, Kleinbürger, Arbeiter und Sozialhilfeempfänger – eine solche Schichtung und ein Selbstverständnis der Klassen hatte im Osten dagegen kaum überlebt. Eher sind Meyers Leute self made und klassenlos, sie haben kein immobiles Erbe, entstammen keinem Geld- oder Bildungsadel, keiner besseren oder schlechteren Gesellschaft, sie rebellieren nicht auf dieselbe Art gegen die Generation ihrer „Eltern“ und kennen das stolze Dasein als Ehe- und Hausfrau oder Jurist in dritter Generation nicht. Nicht einmal der Kommunismus vereint sie zu ideologischen Erben, sie gehören keinerlei dynastischem Kollektiv an. Es sind nicht „Verlorene“, eher einzigartig vereinzelte Glücksritter und Entdecker, Abenteurer und Romantiker, die kaum etwas zu verlieren haben. Ihre ungeübte Weltläufigkeit ist geprägt von vollkommener Unverkrampftheit und fehlendem Dünkel gegenüber jedwedem Geschäft mit Sex oder Immobilien.

Eine Frucht von ganz anderer Form und anderem Klang ist der Ransmayr-Pare‘sche The Flying Mountain. Schon im Titel verzichtet der englische Verlag Seagull auf die erstaunliche Gattungsbezeichnung „Roman“, handelt es sich in der Tat eher um eine Ballade, einen langen, in Versen erzählenden Text.  Diese zauberhafte Dichtung lässt uns sinnlich über das Geräusch des Windes die Gleichzeitigkeit von Welt und die Überwindung von Raum und Zeit inmitten eines Verses erfahren, vom Gipfel im Himalaya bis zur Brandung des Atlantiks. Der hohe Ton dieser ganz und gar milieufernen Dichtung löst auf besondere Art ein Nachdenken über die Unterschiede der deutschen und englischen Sprache aus: Während das Deutsche in größter Varianz unterschiedlichste Satzstellungen und insbesondere das Verb am Satzende kennt, erst mit dem Verb in die Zukunft weist, einen Gedanken, eine Handlung, eine Beobachtung eröffnet, und den Vektor der Bewegung (das Prädikat) erst am Ende offenbart, bestimmt der englische Satz in aller Regel seinen Vektor bereits in der Mitte und endet mit dem Objekt. Nur in der Lyrik macht das Englische die andere Satzstellung möglich. Es ist dies ein Unterschied der Konsistenz und Kondition unserer Sprachen, der in der Versdichtung offen zutage tritt. Zwei irische Brüder, die im Osten Tibets ins Gebirge steigen – das mutmaßliche Ziel, es wird von Kapitel zu Kapitel immer deutlicher, ist die „Leerstelle“: der weiße oder blinde Fleck, jenes Unerlöste, wovon wir wenig, vielleicht gar nichts wissen, und das der Barde in der unglücklichen, verzehrenden, ja stets sehnsuchtsvollen und unerfüllten Liebe Liams vermutet. Sein Streunen, das von einer Rastlosigkeit, einer glühenden Sehnsucht und einer sonderbaren Flüchtigkeit, ja, fast einer Teilnahmslosigkeit in Begegnungen mit anderen Menschen gekennzeichnet ist, lässt den Bruder zwar einsam erscheinen, und doch nicht spurenlos verschwinden.

Die Spur des verlorenen Bruders ist eben der an sich selbst gerichtete, mal verträumte und singende, dann rasend wütende Monolog, den der „Fliegende Berg“ mit dem Delirium, dem Tod und Diesseits verbindet. Beider Sein, Lieben und unterschiedliche Todeserfahrungen bilden den Stoff des Romans. Pare löst sich vom Versmaß, er entwickelt ein eigenes Geflecht der Vektoren und schwankenden Bewegungen. Pare findet mit Ransmayr – wo angemessen und schön – zum lyrischen Versende: „Everyone could see this mountain fly“ (Ende Kapitel 7 flying mountain).

Die Bücher beider Übersetzer haben es nicht nur auf die Longlist des ManBookerPrizes geschafft, sie sind die Preisträger des heutigen Abends und ich möchte Ihnen meinen Glückwunsch sagen. Voll Bewunderung und Staunen möchte ich Ihnen beiden, liebe Katy, lieber Simon, für Ihr glänzendes Werk danken.

 

1 Katy Derbyshire/Julia Franck zu Sasha Waltz‘ Stück Kreaturen