Danksagung Anne Folkertsma

Sehr geehrte Damen und Herren,
 
Ich stand in der Münchener Pinakothek der Moderne, betrachtete die Gemälde Max Beckmans, und plötzlich schrillte mein Telefon.  Rhythmus und Dynamik der Klassischen Moderne wichen der Hektik der heutigen Zeit. Schnell lief ich aus dem Saal ins Atrium. Da erfuhr ich überrascht und zu meiner Freude, dass mir für meine Übersetzung der Blutsbrüder der Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis 2015 zuerkannt worden ist. In einem Museum wie die Pinakothek entfalten die Nuancen des einzelnen Kunstwerks optimal ihre Wirkung in offenen, hellen Räumen.
Eine gute Übersetzung sollte meiner Meinung nach funktionieren wie ein solches Museum. Sie sollte die Nuancen des Originals, die Darstellungsweise und die Aussage des Textes zur Geltung bringen, und zwar so, dass ihre Wirkung auf den Leser der Übersetzung so weit wie möglich der Reaktion des Lesers des Originals entspricht. ‚Wirkungsäquivalenz‘ nennt man das in der Übersetzungswissenschaft.

Der Übersetzer untersucht zunächst die Stilelemente des Textes, versucht deren beabsichtigte Wirkung festzustellen und diese in der Übersetzung zu erhalten. Die Wirkung der Stilelemente ist eng verbunden mit den jeweiligen literarischen Konventionen in einem Land: was in dem einen Land geschätzt wird, kann im anderen nerven.

Obwohl ich das Konzept der ‚Wirkungsäquivalenz‘ liebe, ist es problematisch in Zusammenhang mit Jugend auf der Landstraße aus dem Jahre 1932, wenn der Roman nicht in seiner Entstehungszeit gelesen wird.  Es beginnt schon beim Titel. Die Neuausgabe im Jahre 2013 hat Metrolit Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman genannt. Mit Recht. Welcher deutsche Leser weiß heutzutage, dass der alte Titel ‚umherziehende oder umherstreichende’ Jugend betrifft, die sich nicht nur auf dem Land, sondern genauso gut in der Metropole Berlin befinden könnte? Der alte Titel ‚wirkte’ nicht mehr.  

Blutsbrüder beschreibt die Erfahrungen einer zusammengewürfelten Gruppe von Jungs im Berliner Osten der zwanziger Jahre. Verloren, durch den ersten Weltkrieg elternlos, versuchen sie zu überleben. Sie bewegen sich kreuz und quer durch das Berlin der Wirtschaftskrise, stehen ärmlich gekleidet inmitten der grellen Neonwerbung der Warenhäusern und Tanzlokalen, versuchen sich für wenige Pfennige zu sättigen zwischen Huren, Ganoven und Landstreichern, verkriechen sich vor Kälte ins Sozialamt oder in die Wärmehalle. Viele gleiten ab in Kriminalität und Prostitution, andere versuchen, ehrlich zu bleiben in einer Gesellschaft, die sie nicht haben will. Blutsbrüder liest sich stellenweise wie ein spannendes Jugendbuch, aber ist auch herzzerreißend. 

Ich möchte hier einige Themen anrühren, die mir beim Übersetzen Ernst Haffners wichtig waren. Die Jury hat genau auf die Aspekte des Textes hingewiesen, die mir am Herzen liegen.

Der Reportageroman zeigt eine Welt, die es größtenteils nicht mehr gibt. Das hat beim Übersetzen ausführliche Recherchen erfordert, da Haffner die Atmosphäre der Schauplätze zwar prägnant beschreibt, aber die Details häufig unklar bleiben. Das Internet und die in Amsterdam verfügbare Literatur reichten für meine Nachforschungen nicht aus. Nur vor Ort fand ich Bilder verschollener Objekte und konnte ich manche Elemente des Lokalkolorits entschlüsseln. Auf der Suche nach Resten aus der Welt der Blutsbrüder, radelte ich mit alten Stadtplänen versehen durch das heutige Berlin. Diese Eindrücke habe ich in die Übersetzung einfließen lassen, um die Blutsbrüder dem Erfahrungsraum des heutigen niederländischen Lesers näher zu bringen.

Ein zweites Problem der Übersetzung ist die Sprache der Blutsbrüder. Während meines Studiums der Übersetzungswissenschaft und meiner Lektoratstätigkeiten für verschiedene Verlage haben Übersetzungsprobleme wie Lokalkolorit immer mein besonderes Interesse gehabt.
Hans Fallada ist bekannt als der Autor, der ‚dem Volk aufs Maul geschaut hat‘, Ernst Haffner, der selbst Jugendarbeiter und Reporter war, tat dies ebenfalls.
Niederländisches Lokalkolorit ist kaum in die Übersetzung Hafners eingeflossen. Wenn man Berliner Lokalkolorit in den Dialekt einer niederländischen Stadt übersetzen würde, dann würde sich der Leser der Übersetzung verirrt vorkommen. So entsteht meiner Meinung nach keine Wirkungsäquivalenz. Daher habe ich in diesem Fall Soziolekt, namentlich Jugend- oder Ganovensprache bevorzugt.

Ich sammele seit langem niederländische Wörterbücher der Ganovensprache, aber für den Wortschatz der Landstreicher hat mir zum Beispiel auch eine niederländische Übersetzung Jack Londons aus 1922 geholfen. Er beschreibt aus der Perspektive eines Vagabunden, wie man sich für eine freie Fahrt auf dem Untergestell eines Zuges platzieren sollte. Genau was ich brauchte!

Nun zum dritten Punkt: Blutsbrüder wird von einer straffen Gliederung und Rhythmik, von Wiederholungen und Dramatik geprägt, und ähnelt in dieser Hinsicht der Musik und Malerei dieser Zeit. Ich nannte bereits Beckmann, könnte genauso gut den Jazz nennen. Zur Überprüfung des Rhythmus habe ich Original und Übersetzung immer wieder laut gelesen.Der letzte Punkt betrifft ein auffälliges typographisches Merkmal der Blutsbrüder: etwa 250 Textstellen, sowohl Wörter wie Ausdrücke, sind gesperrt gesetzt worden. Es betrifft bekannte Lokale, Ganovensprache sowie Wörter, die innerhalb der Clique eine ganz andere Bedeutung haben.Die Sperrung ist ein literarisches Mittel, das man in niederländischen Büchern nicht und in zeitgenössischen deutschen Romanen kaum vorfindet. Weglassen wollte ich die Sperrungen nicht, denn Haffner hat ja etwas betonen wollen. Sollte ich bei jeder gesperrten Textstelle herausfinden, weswegen sie hervorgehoben wurde, und dafür im Niederländischen nach einem entsprechenden Stilmittel suchen?Als ich in Berlin war, habe ich den Metrolit-Verlag besucht, wo ich mir die Originalausgabe des Verlegers von Jugend auf der Landstraβe von 1932 ansehen durfte. Viele Exemplare sind 1933 verbrannt worden. Es war mir nicht gelungen, das Buch anderswo aufzutreiben.

Erstaunt bemerkte ich, dass die betreffenden Stellen im Original nicht gesperrt gesetzt, sondern in Anführungszeichen gesetzt worden waren. Es stellte sich heraus, dass Metrolit die Anführungszeichen 2013 aus ästhetischen Gründen ausgetauscht hat. Ich habe beide Editionen stundenlang miteinander verglichen, ‚detektivisch‘, wie man im Verlag sagte. Mir wurde deutlich, wie groß die Folgen einer augenscheinlich einfachen typografischen Maßnahme sein können. Haffner verwendete Anführungszeichen für Zitate, Ironie und die Namen der wichtigsten Orte und Instanzen im Leben der Blutsbrüder. Das ‚wirkt‘ auch heute noch, während die Sperrung meines Erachtens verwirrt.

Nach meinem Besuch habe ich meine Übersetzung völlig umgekrempelt. Die Anführungszeichen, die Zitate markierten, erlaubten mir viel Spielraum im Gebrauch der Ganovensprache. Ich war heilfroh, das gleiche Stilmittel hantieren zu können wie Haffner. Und so wurde die niederländische Übersetzung der Blutsbrüder ein schmales Bändchen ohne Sperrungen, wie das Original aus 1932.

So viel Spaß am Übersetzen wäre nicht möglich gewesen ohne das anregende Klima an der Amsterdamer Fachschule für literarisches Übersetzen. Lehrreich und motivierend war die Zusammenarbeit mit vielen Kollegen aus dem Verlagswesen. Mein Mentor Gerrit Bussink hat meine Arbeitsweise sehr geprägt. Wir haben endlos über das Handwerk des Übersetzens diskutiert. Beigetragen zu dieser Übersetzung hat auch der Austausch mit dem dänischen Übersetzer Haffners.

Ganz besonders danke ich Christoph Buchwald vom Cossee-Verlag, der mir Fallada anvertraut hat. Ohne meine Arbeit an Fallada wäre es nie zur Übersetzung seines Zeitgenossen Ernst Haffners für den Verlag De Bezige Bij gekommen. Aber Ernst Haffner hat leider nur einen Roman geschrieben und ist im Dritten Reich verschollen. Daher bin ich zu Fallada zurückgekehrt. Es ist eine schöne Erfahrung gewesen, mich über die Jahre immer weiter in diesen Autor und seiner faszinierenden Zeit einarbeiten zu dürfen. Nun bin ich ihm so verfallen, dass ich eine Falladabiografie für unseren Sprachraum schreibe. Wie glücklich darf man sich nennen, wenn man ganz am Anfang der Übersetzerlaufbahn oder, wie in Gerrit Bussinks Fall, nach einem sehr großen Oeuvre Anerkennung findet. Auch im Namen Gerrits möchte ich der Kunststiftung NRW und im Besonderen dem Präsidenten Dr. Fritz Behrens für die großzügigen Preise danken. Auch der Jury danke ich hierbei für ihre Ermunterung. Außerdem freuen wir uns, weil Vertreter der Königlichen Botschaft der Niederlande hier sind und Frau Beate Möllers, Vertreterin des Landes Nordrhein-Westfalen, hier bei uns sind, sowie Vertreter der Stadt Straelen und des Kreises Kleve und Herr Claus Sprick, Präsident des Europäischen Übersetzer-Kollegiums, das uns hier so gastfreundlich empfängt.
Wir finden es toll, dass der heutige Laudator, Uwe Timm, sich bereitgefunden hat, für seinen langjährigen Übersetzer aus München anzureisen. Und unser Dank gilt auch allen, die wir hier vergessen haben.Wir versprechen ihnen, bestärkt und unbeirrt auf dem eingeschlagenen Weg weiterzuarbeiten.