Das Feuer des Eigensinns lodert weiter

Bemerkungen zum Übersetzungshandwerk im Zeitalter digitaler Beschleunigung

Dr. Paul Ingendaay

Vom Übersetzen zu sprechen heißt immer auch: vom Unbekannten zu sprechen, von Sprach- und Wissenslücken, den Grenzen unseres Verstehens und – manchmal – unserer Blödheit. Verzeihen Sie das Wort. Nach vielen Jahren im Ausland habe ich mir angewöhnt, meiner eigenen Blödheit mit Nachsicht zu begegnen. Ich kenne meine Grenzen. Ich kenne auch das Niemandsland und schaue mit dem Fernglas ins fremde Gelände auf der anderen Seite.

Aber ich fände es langweilig, an meinen Grenzen Wache zu schieben und nur zu patrouillieren. Stattdessen wage ich gelegentliche Vorstöße, krieche unter Zäunen hindurch und betrete fremdes Terrain. Will ich mich weiter vorwagen, brauche ich einen Scout. Diese Scouts sind unsere Übersetzerinnen und Übersetzer. Und wenn ich sage „Scout“, dann meine ich: Ohne sie kämen wir nicht weiter.

Mein ganzes Leben als Leser wäre undenkbar ohne die Menschen, die mir Kunde bringen von einer Sprachfremde, die ich allein, auf mich gestellt, kaum an ihren äußeren Rändern kennenlernen könnte.

Der hoch geschätzte, leider schon verstorbene Dieter E. Zimmer überschrieb einmal einen Essay mit dem Titel: „Über die vorläufige Unentbehrlichkeit des Humantranslators“. Zimmer nannte die Spezies damals bei diesem kuriosen Namen – Humantranslator –, um ihn abzusetzen vom Computer, der bald – so dachten manche – die Aufgaben des Menschen übernehmen würde. Computer würden also Industrieabläufe lenken, hinzulernen und – literarische Texte übersetzen! Natürlich hatte Zimmer Recht. Er beschrieb, warum eine Maschine nie und nimmer die Entscheidungen treffen kann, die nötig sind, damit aus einem mechanisierten 1:1-Produkt eine gute und nuancierte Übersetzung wird.

Recht hatte er aber auch damit, dass die „Elektrifizierung der Sprache“, wie er es vor dreißig Jahren nannte, unser ganzes Leben auf den Kopf stellen würde. Und der einzige Grund, warum wir uns nicht mehr darüber wundern, ist, dass die Umwälzungen jeweils in kleinen Schritten erfolgt sind. So konnten wir uns behutsam an diese gigantische Transformation gewöhnen. Sie alle wissen, dass man manche Medikamente „ausschleichen“ muss. Nun, dieses Medikament hat sich eingeschlichen. Wir haben es eingeschlichen, wir alle.

Medikament ist natürlich das falsche Wort. Die neuen Umstände haben sich eingeschlichen, eine neue Wirtschaftsrealität, die wir Globalisierung nennen, neue Kommunikationswege, rasant beschleunigte Geschwindigkeiten haben sich eingeschlichen, wenn Geschwindigkeiten schleichen können. Andere Umgangsformen, darunter eine Menge Grobheit und ziemlich miese Sitten, haben sich eingeschlichen: Die neuen digitalen Umgangsformen und Manipulationen können Regime stürzen und das Funktionieren demokratischer Staaten bedrohen. Ein neues Leben hat sich eingeschlichen, auch und besonders für jene, die mit Sprache arbeiten, die Literatur lesen, kaufen, verkaufen, empfehlen, bewerten, kommentieren. Und für jene, die sie schreiben! Und damit haben sich auch neue Umstände für all jene eingeschlichen, die Literatur übersetzen.

Dabei hat sich allerdings keine neue Geschwindigkeit bei der Arbeit selbst eingeschlichen. Das Wissen, um überhaupt übersetzen zu können, muss immer noch nichtdigital erworben werden; ein nichtdigitales Gehirn wägt jeden Satz ab; und die Sorgfalt vor jedem einzelnen Wort, sie ist dieselbe geblieben.

Darf ich ein paar kulturkritische Linien ziehen? Während die Literaturkritik an Bedeutung verloren hat, ist die öffentliche Beachtung des übersetzerischen Handwerks gestiegen. Während die Expertenschaft literarischer Vorkoster, auf die Zeitungen und Kulturradio mal zählen konnten, immer weniger gebraucht wird, hat die Übersetzerzunft sich im Kampf um Aufmerksamkeit einige Rechte erstritten. Ist das schon genug? Wahrscheinlich nicht. Ist denn die Bezahlung wenigstens ausreichend? Machen Sie keine Witze.

Im Windschatten dieser Verbesserungen, die im Lauf der Jahrzehnte auch das Europäische Übersetzerkollegium in Straelen hervorgebracht haben, bedeutende Auszeichnungen wie diese oder den nicht ganz unwichtigen Umstand, dass Übersetzerinnen und Übersetzer manchmal mit eigener Vita im Klappentext der Bücher genannt werden, an denen sie viele Monate gearbeitet haben – im Windschatten dieser eigentlich positiven Entwicklung ist die öffentliche Debatte über Literatur von digitalen Marktkräften an den Rand gedrängt worden: weniger Platz für Buchbesprechungen, also auch für Übersetzungskritik; weniger Raum für ein vertieftes Gespräch über den Wert literarischer Werke; weniger Zeit fürs Lesen, für Sammlung, für die Stille.

Das digitale Plebiszit, der Blog von irgendwoher oder der Youtube-Kanal von Promis können wirkungsvoller und schneller Bücher verkaufen, als das Votum der Literaturkritik es jemals konnte.

Meine Damen und Herren, zu Ihnen spricht kein Literaturkritiker, der seiner verlorengegangen Deutungshoheit nachweint. Einmal, weil ich mich nicht als Literaturkritiker verstehe, sondern als Leser, manchmal als Autor, immer aber als leidenschaftlich Teilnehmender, der keine Objektivität kennt. Und dann, weil die Deutungshoheit irgendeiner Kaste des Kulturbetriebs mir gleichgültig ist. Sollen ruhig alle durcheinanderquaken, welche Bücher sie für die wichtigsten halten und welche davon sie zum Kauf empfehlen. Die Buchindustrie – der „Markt“ – ist nur die quantifizierbare Seite der Sache, von der ich rede.

Die andere Seite kann nur umschrieben oder angedeutet werden. Die andere Seite beginnt mit dem Eigensinn. Dem individuellen Blick. Der Obsession, die nicht messbar ist, aber Wirkung hat. Und damit spreche ich schon von unserem Preisträger Adan Kovacsics, dessen Leistung Olga García und Belén Santana gleich für Sie würdigen werden.

Die andere Seite ist nämlich die Leidenschaft des Einzelnen, der es schafft, andere durch seine Arbeit zu überzeugen und mitzureißen, weil er selbst nicht anders kann, als überzeugt und mitgerissen zu sein. Der zum Beispiel sagt: Ich will, dass spanische Leser erfahren, wie Hans Georg Gadamer die Lyrik Paul Celans gedeutet hat – und der deshalb diese schwierigen Texte übersetzt. Der zum Beispiel findet, spanische Leser müssten in präzisen Fußnoten erfahren, wie es Heinrich Heine in seinem Pariser Exil ging.

Die andere Seite ist das Feuer, das für sich allein lodert, so intensiv, das andere nähertreten und weiteres Holz heranschaffen. Auch Sie, verehrte Kunststiftung NRW, liebes Europäisches Übersetzer-Kollegium, Sie alle hier im Saal gehören zu denen, die frisches Holz heranschaffen. Mehr können Sie nicht tun.

Erlauben Sie mir zum Schluss die Bemerkung, dass die Summe aller stumpfen, indifferenten Menschen über die letzten beiden Jahrhunderte wohl ungefähr gleich geblieben ist. Was umgekehrt heißt: auch die Summe derer, die klüger werden und Grenzen überschreiten wollen. Das sind unsere Menschen. Für sie veranstalten wir das hier. Für sie brennt und leuchtet das Feuer des großen Übersetzers Adan Kovacsics, dem ich von Herzen zu diesem Preis gratuliere.