Laudatio Sieglinde Geisel

Erfinden, was es schon gibt

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jury, liebe Olga Radetzkaja, lieber Jan Schönherr,

Die beiden Übersetzungswerke, die heute mit dem Straelener Übersetzungspreis ausgezeichnet werden, sind in jeder Hinsicht gegensätzlich: Wir haben zum einen den Augenzeugenbericht eines russischen Literaturwissenschaftlers aus dem Bürgerkrieg 1917-1922, und wir haben zum anderen das Romandebüt eines britischen Sachbuchautors, das im New York des 18. Jahrhunderts spielt. Auch sprachlich stellen Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ und Francis Spuffords „Neu York“ ihre Übersetzer vor ganz unterschiedliche Herausforderungen.

Doch die beiden Werke haben auch Gemeinsamkeiten. So stellen beide Texte höchste Ansprüche an die Kunst des Übersetzens. Und noch etwas Weiteres ist ihnen gemein: Die Veröffentlichung ihrer deutschen Fassung im Jahr 2017 fand in den Feuilletons kaum Widerhall. Die Jury korrigiert mit ihrer Entscheidung also auch ein Versagen der Literaturkritik – dafür danke ich den Juroren.

Der Straelener Übersetzerpreis 2019 geht an Olga Radetzkaja für ihre Übersetzung von Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ aus dem Russischen. Olga Radetzkajas übersetzerisches Werk umfasst Klassiker wie „Die Kreutzersonate“ von Tolstoi ebenso wie Neuerscheinungen, etwa von Maria Stepanova, Michail Schischkin oder Evgenij Vodolazkin. Und sie übersetzt nicht nur Belletristik, sondern auch theoretische Texte, hier wären etwa Pawel Florenskij, Ilya Kabakov oder Jurij Lotman zu nennen.

Das Wichtigste beim Übersetzen sei die gedankliche Klarheit, sagt Olga Radetzkaja, und diese Klarheit prägt denn auch den Stil ihrer Übersetzungen: In ihrer Sprache fühle ich mich immer aufgehoben. Das ist umso wichtiger, als die Werke, die sie übersetzt, meist nicht einfach zu lesen sind. Das gilt in besonderem Maß für Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“. Dieses Buch sei eine Zumutung, sagt der Lektor Ron Mieczkowski in seinem Empfehlungsschreiben für den Straelener Übersetzerpreis. In der Tat: Wer bei der „Sentimentalen Reise“ einfach so mit Lesen beginnt, schlägt sich an den schroffen Sätzen buchstäblich die Stirn blutig. Wir platzen mitten in das Reservepanzerbattaillon hinein, in dem Schklowskij als Ausbilder dient, ohne auch nur den Namen der Stadt zu erfahren, die hier zum Feldlager umfunktioniert wurde. Und so geht es weiter: In diesem Text nimmt uns niemand an die Hand.

Wie gut, dass es Nachworte gibt. Es ist die Übersetzerin, die uns auf diese Weise Beistand leistet, zusammen mit ihrem Kollegen Anselm Bühling, der auch die überaus hilfreichen Anmerkungen überarbeitet hat und der heute ebenfalls anwesend ist. Ihre Nachworte sind Teil von Olga Radetzjakas übersetzerischem Werk, ebenso wie ihre Essays zur Theorie des Übersetzens. Im Nachwort gibt sie uns Einblick in die Voraussetzungen eines Texts, sie skizziert seinen historischen Hallraum und erkundet seine inneren Prinzipien.

Wenn ich Olga Radetzkajas Nachworte lese, denke ich oft an einen Satz von Thomas Harlan: „Welcher Leser wüßte nicht, daß ein Werk allein aus sich selbst die Gesetze ableitet, nach denen es hergestellt, aus nichts anderem als sich selbst gemacht und also autonom ist.“ Diese Gesetze, nach denen sich ein Werk aus sich selbst heraus erschafft, entstehen oft unbewusst. Der Autor muss sie nicht kennen – die Übersetzerin dagegen schon. Olga Radetzkajas Arbeit beginnt mit der Erkundung dieser inneren Gesetze des Erfindens.

 „Erfinden, was es schon gibt“ – den Titel meiner Laudatio habe ich einer der „Kindergeschichten“ von Peter Bichsel entnommen. Der Erfinder in dieser Geschichte hat sich in den Wald zurückgezogen und erfindet ausnahmslos Dinge, die es schon gibt: Rolltreppen, Fernseher und so weiter. Als die „Kindergeschichten“ 1969 erschienen, bemerkte keiner der Rezensenten, dass mit diesem Erfinder eigentlich der Schriftsteller gemeint ist. Oder die Übersetzerin.

Denn: Erfinden, was es schon gibt, das gilt nicht nur für die Arbeit des Schreibens, sondern erst recht für die Arbeit des Übersetzens. „Auch im Original sind die Sätze dieses Buchs von viel Raum, viel Leere umgeben“, lesen wir in Olga Radetzkajas Nachwort zur „Sentimentalen Reise“. „Aber woraus entsteht diese Wirkung? Woraus besteht dieser Text, und wie fängt man an, ihn zu übersetzen?“ Im Nachwort bereitet Olga Radetzkaja uns vor auf das Prinzip der Lakonie, auf die schroffen Abbrüche. Es gehe darum, die Offenheit des Originals zu bewahren und der Versuchung zu widerstehen, für den Leser Brücken zu bauen.

Von W. G. Sebald stammt die Wendung der „Bannung des Schreckens durch den Satzbau“. Das gilt gerade auch dort, wo der Satzbau sich auf die elementarsten Mittel beschränkt. Viktor Schklowskij und Olga Radetzkaja sind beide Meister der Lücke. Es ist eine Virtuosität, die man nicht sehen kann, denn die Kunst des Weglassens geschieht naturgemäß im Verborgenen.

Ich habe in der „Sentimentalen Reise“ einen Satz gefunden, der diese Poetik der Lücke in ein Bild fasst. Man sehe den Fußspuren eines Menschen nicht an, wie viel Gewicht er trägt, schreibt Schklowskij: „Seine Spuren sind nur manchmal tiefer, manchmal flacher."

Schklowskij wollte in seiner Erzählung des Unzumutbaren die Spuren vertiefen. Die Worte seines Texts graben sich in unser Bewusstsein ein, wie Stiefel in die Erde. Die Stiefel sehen wir dabei oft nicht. Eine der Herausforderungen für das Übersetzen besteht demnach im Vertiefen der Spuren, auch in der deutschen Sprache.

 

Woraus entsteht die Wirkung?, fragt Olga Radetzjaka. Um die Leistung ihrer Übersetzung zu würdigen, muss ich daher mit der Wirkung beginnen, die der Text auf mich als Leserin hat.

 

Beginnen wir mit dem harmlosesten Fall von Lakonie: der wohlgesetzten Lücke als Technik des Witzes.

Über seinen Großvater mütterlicherseits schreibt Schklowskij:

  • „Karl Bundels Russisch war schlecht. Was er gut konnte, war Latein, aber am liebsten ging er auf die Jagd.“ 335

Ein bisschen weniger harmlos sind jene Passagen, die zum politischen Witz tendieren:  

  • "Das Sowjetregime hatte mittlerweile alle zu maximalem Zynismus im Umgang mit Papieren erzogen. Hätte man sich an die Regeln gehalten, wäre das auf Sabotage hinausgelaufen."

Schklowskij mutet uns eine seitenlange Beschreibung der Leiden eines Mannes namens Gorban zu, darunter die Schilderung der Amputation von Gorbans Bein. Die Lektüre ist eine Zumutung.

  • "Wem diese Beschreibung nicht gefällt, der soll gefälligst keine Kriege führen."

Kein moralischer Appell, kein „Nie wieder Krieg!“, sondern ein äußerst beredtes Schulterzucken. Und doch kann man es eindringlicher nicht sagen.

Mit anderen Worten: Schklowskij geht es darum, mit minimalen Mitteln maximale Wirkung zu erzeugen. Olga Radetzkaja hatte Sätze zu übersetzen wie diesen:

  • "Der zweite Gefangene war fast noch ein kleiner Junge, und wenn er nicht am nächsten Tag erschossen wurde, haben sie ihn am übernächsten wahrscheinlich laufenlassen."

Oder:

  • "Unsere verhafteten Kameraden wurden erschossen. Erschossen wurde auch mein Bruder.“

Solche Lakonie trifft uns wie ein Faustschlag in die Magengrube, ohne jede Warnung.

Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ besteht aus lauter einfachen Sätze und schlichten Worten, doch diese sind von enormer Sprengkraft. Dass auf den 411 Seiten auch im Deutschen jedes dieser Worte sitzt, verdankt der Autor seiner Übersetzerin. Ich möchte Olga Radetzkaja eine unerschrockene Übersetzerin nennen. Sie sie ist es, die dafür sorgt, dass der Schmerz dieser ausgesprochen unsentimentalen „Sentimentalen Reise“ zu unser aller Schmerz wird.

Diese Unerschrockenheit übrigens hat sie auch in anderen Übersetzungen bewiesen, etwa Julius Margolins „Reise ins Land der Lager“ über den Gulag, gegenwärtig ist sie mit der Fertigstellung von David Roussets „L’univers concentrationnaire“ beschäftigt, ihre erste Übersetzung aus dem Französischen.

„Die Kunst ist kein Genuss, kein Trost und kein Spaß: Die Kunst ist eine große Sache.“ Diese Worte von Tolstoi zitiert Olga Radetzkaja in ihrem Nachwort zu ihrer Neu-Übersetzung der „Kreutzersonate“. Ein Spaß ist Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ keinesfalls. Ein Trost? Vielleicht. Ein Genuss? Darüber habe ich lange nachgedacht. Dieses Buch handelt vom Schrecken, und doch ist es schön. Und wäre es nicht schön, hätte ich die Lektüre nicht ausgehalten. Schön wird dieser Text durch die Wahl der jeweils einzig richtigen Worte und durch den unerbittlichen Rhythmus. In der schnörkellosen, klaren und, ja, poetischen Handschrift der Übersetzerin liest sich das so:

  • "Die Straße stieg an. Die Erde war gesprenkelt mit kleinen, kantigen Steinen, schwarzweiße Felsstürze im Mondlicht." 144
  • „Mein Herz ist schwer, die Sonne ist rot. Es wird Abend.“

***

Ich habe viel von Brüchen geredet. Nun muss ich Ihnen auch selbst einen Bruch zumuten. Wir verlassen die felsige Landschaft von Viktor Schkloswkij und betreten die üppig wuchernde Sphäre von Francis Spufford. Spufford hantiert nicht mit Sprengstoff, bei ihm kommt die Energie des Texts aus der Freude des Fabulierens. Olga Radetzkaja hat Viktor Schklowskijs Lakonie im Deutschen neu erfunden, Jan Schönherr wiederum ist die kongeniale Übertragung von Francis Spuffords Überschwang gelungen. Dafür erhält er den Förderpreis des Straelener Übersetzerpreises.

„Alles schwappt ständig über“, so sagte mir Jan Schönherr im Vorgespräch über den Roman „Neu York“. Statt lange zu erklären, worin die gemeinsame Spielfreude von Spufford und seinem Übersetzer besteht, lese ich Ihnen den ersten, alles andere als lakonischen Satz aus „Neu York“ vor. Wir befinden uns im Jahr 1746.

Da die Brigg Henrietta, die Sandy Hook kurz vor dem

Mittagsmahl erreicht und die Narrows gegen drei

passiert hatte, um dann in so unendlich kleinem Zickzack

über die graue Hafenbucht Neu-Yorks zu kreuzen, als wollte

sie die Infinitesimalrechnung herausfordern, so lange, dass

es dem an Deck von einem Bein aufs andere springenden

Mr Smith wohl schien, als werde das Hügelchen mit der

Stadt auf ewig vor ihm in der novemberlichen Düsternis

schweben und zu Zenos Schadenfreude niemals näher kommen

– da diese Henrietta also erst, als sich der Tag bereits gen

Abend neigte, bei Tietjes Slip vor Anker ging, wo immerhin

noch hundert Fußbreit Wasser Smith von den wahrhaftigen

Giebeln der wahrhaftigen Häuser der Stadt trennten,

und da die Dämmerung zudem so klamm und trübe war,

wie sie es im November nur sein kann, grade so, als wäre

die ganze Welt ein Quart graues Papier, durchnässt vom

Nieselregen und in dringender Gefahr, gänzlich in Brei sich

aufzulösen – da also all dies sich so verhielt, legte der Kapitän

der Brigg Smith dringlich nahe, doch lieber eine letzte

Nacht an Bord zu bleiben und seinen Landgeschäften erst

am nächsten Morgen nachzugehen.

Er sei auf die Leichtfüßigkeit des Originals auch ein wenig hereingefallen, sagte mir Jan Schönherr. Diese langen, eleganten und vielfach in sich selbst verschlungenen Sätze im Deutschen so nachzubilden, dass sie nicht schwerfällig werden, war schwieriger, als erwartet. Wie bei Schklowskij drängt sich auch hier die Virtuosität nicht in den Vordergrund: Allerdings steckt sie bei Spufford nicht in der vermeintlichen Einfachheit, sondern in der vermeintlichen Leichtigkeit. Dass Jan Schönherr diese Wirkung der Leichtigkeit erzielt, liegt daran, dass er als Übersetzer zum Spielgefährten des Autors wird. Er verleiht Spuffords Sätzen nicht nur einen unwiderstehlichen Rhythmus, er versteht es überdies meisterhaft, durch den Satzbau das Tempo zu verändern.

Wir haben es eben in diesem ersten Satz erlebt: Die Syntax lässt uns die gebremste Ankunft der Brigg Henrietta geradezu körperlich erleben, wir spüren die Verzögerung des in der Hafenbucht kreuzenden Schiffs, und ebenso spüren wir die Ungeduld des Mr Smith. Der Vorschlag, noch eine Nacht an Bord zu bleiben, ist für ihn eine Zumutung.

Smith aber wollte davon nichts wissen. Er lächelte

und verbeugte sich und wünschte nichts, als dass man

ihn sogleich zum Hafen rudere.

 

Auf einmal sind die Sätze kurz, sie spiegeln das Ende von Mr Smiths Geduld. Als er endlich an Land ist, beschleunigt sich mit der Handlung dann auch gleich die Sprache. Das ist ein syntaktisches „show don’t tell“: Die Sätze sind, was sie sagen.

Es ist nicht das einzige Stilprinzip von Francis Spufford, das Jan Schönherr beim Übersetzen neu erfindet. Auch im Hinblick auf die Historizität respektiert er die Prinzipien des Autors und verleiht vor allem den Dialogen und Briefen eine dezente Patina. Und wie der Autor streut auch Jan Schönherr bisweilen Anachronismen in seinen Text.

 

Viktor Schklowskij hat mit seiner Lakonie erfunden, was er selbst erlebt hat. Francis Spufford dagegen hat mit seinem Sprachrausch eine Welt erfunden, die es ohne seine Vorstellungskraft nicht gäbe. Olga Radetzkaja und Jan Schönherr haben diese beiden so unterschiedlichen Werke mit ihrer eigenen Energie aufgeladen und damit kongenial erneuert. Dass wir die „Sentimentale Reise“ und „Neu York“ in ihrer übersetzerischen Handschrift kennenlernen können, ist unser Gewinn.