Grußwort der Jury
Wortwürmer & Weltwissen
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde des Hauses, verehrter Herr Ćosić und liebe, heute hochgeehrte Preisträgerinnen.
Parole, parole, parole; parole, parole, parole; parole, parole, parole; parole soltanto parole, parole tra noi.
Worte, Worte, Worte, nichts als Worte zwischen uns. Das sang 1972 die italienische Sängerin Mina in herrlich spöttischer Verächtlichkeit zu ihrem bedröppelten männlichen Gegenüber hin. Ein Schlager, ein Ohrwurm, ein Klassiker.
Wie viele Wörter enthält ein Roman von 787 Seiten? Hunderttausend? Zweihunderttausend? Die Antwort weiß dessen erschöpfte Übersetzerin; oder vielmehr das Wörterzählprogramm von Word. Wie viele Organismen wimmeln, kämpfen, koalieren und kohabitieren in einem Kubikmeter Walderde? Keine Antwort weiß die zweite heute zu preisende Übersetzerin; und auch nicht ihr wissbegieriger Autor David Haskell – die Zahl geht ins Unzählbare. Einige der Lebewesen, die auf und über dem Waldboden leben, geben Laute von sich; die allermeisten, unter dem Boden, bleiben ihr Leben lang stumm – für unsere Ohren. Wie viele Übersetzungen werden jährlich in Deutschland veröffentlicht? Der Börsenverein des deutschen Buchhandels lässt uns wissen: ca. 10.000; vorwiegend aus dem Englischen, dem Französischen, dem Japanischen, dem Schwedischen, dem Italienischen.Wieviel schöne Literatur darunter? Ich weiß es nicht. Wir von der Jury haben für diesen Preis jedenfalls 70 Übersetzungen gelesen, aus 22 Sprachen. Darunter beachtliche, ja bewundernswerte; die eine oder andere hätten wir sogar gerne ebenfalls prämiert. Ausgewählt, weil sie herausragen in ihrer jeweiligen Kategorie, haben wir die Übersetzungen von Brigitte Döbert und Christine Ammann.
Mit der Übersetzung von Bora Ćosićs Roman „Die Tutoren“, der in geradezu überwältigender Weise der Wörterlust frönt, dem Wörterwahnwitz, dem Wörtersalat, der Wortkomik, haben wir gewissermaßen das Übersetzen selbst prämiert. Dieser listig gelenkte Fluss der Wörter; dieses manische, hochfahrende, belustigte, tiefernste Worte- und Wörterschöpfen aus dem Ozean der uns umgebenden Sprache: das verbindet diesen Roman mit der Sache des Übersetzens. Wörter reihen sich aneinander, bilden Ketten, Wortungetüme; Wortwürmer verfolgen einen, werden zu Ohrwürmern, haben ihr Eigenleben – oh ja, das kennen Übersetzer. Und aus all diesem parole parole-Machen schlägt der Roman, schlägt die Übersetzung Erkenntnis, das ist die Pointe. Es sind ja nicht nur vorsichtig und klug gesetzte Wörter und Worte, die uns Einsichten vermitteln. Vielmehr kann ein Wortschwall, wie er dem Gerede sympathetisch abgelauscht ist, Weltwissen herbeizaubern – so haben wir es in unserer Jurybegründung übermütig benannt. Und wie Brigitte Döbert mitzaubert, das hören wir alsogleich.
Alles, was wir über die Welt, von der Welt wissen, haben wir über die Wörter. Nur, was wir in Worte gefasst haben, können wir erfassen, können wir uns zu eigen machen.
So erhält den Förderpreis eine Übersetzung, die das Einfangen der belebten, aber nicht mit Menschensprache begabten Natur mit Worten nachvollzieht. Ein Schreiben, das darauf vertraut – und vertrauen muss –, dass Wörter Dinge und Vorgänge, die wir noch nicht kennen und noch nicht verstehen, zur Sprache bringen: kenntlich machen. „Das verborgene Leben des Waldes“ – „The Forest Unseen – A Year’s Watch in Nature“. Nicht weil der Autor David Haskell auch Gedichte geschrieben hat, gehören Buch und Übersetzung in den schönen Rahmen einer literarischen Preisverleihung. Sondern weil sein watching, sein Blick auf die Natur, verstehen will, Zusammenhänge herstellen und kapieren möchte. Und dafür die Sprache des erzählenden Beschreibens sucht. Weil er, der Naturwissenschaftler, darauf baut, dass dies mit Wörtern gelingen kann und dass es dazu mehr bedarf als der Terminologie der Wissenschaft. Auf berühmte ältere Vorbilder wie Alexander von Humboldt, Charles Darwin, Alfred Brehm brauche in diesem Haus nicht hinzuweisen. Leidenschaftlich genau hinsehen, was und wie die Dinge sind, und ebenso leidenschaftlich nach den Wörtern suchen, die dafür taugen – das ist hier das gemeinsame Metier von Autor und Übersetzerin.
„Das verborgene Leben der Wörter“. Worte wirken oft so anders, bewirken anderes, als sie es den Buchstaben nach tun wollen. Gutes, Übles, Beiherspielendes. Mina sang davon in ihrem Lied, und Autoren und Übersetzer wissen davon.
Mit dem Haupt- und dem Förderpreis prämieren wir also auch den Umstand, dass die Wörter, die parole, die wir Menschen unter uns, tra noi, gebrauchen, immer wieder einer Erdung bedürfen. Einer Erdung an der ungefesselten oder auch blödsinnigen Volks- oder Nicht-Literatur-Sprache zum Beispiel; oder an einer äußerst geschärften Wahrnehmung äußerer Dinge und innerer Regungen; einer Walderdung sozusagen.
Wenn Mina die leeren, hohlen, verbrauchten, verlogenen parole des werbenden Mannes lächelnd und singend bloßstellt, dann schwingt darin das Verlangen nach anderen Worten mit, nach stimmigen. Nichts anderes sucht die Jury eines literarischen Übersetzerpreises. Wir haben sie gefunden.
(Jürgen Dormagen)