Laudatio Uwe Timm

Die Alphabetisierung des Bellens

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen, liebe Freunde, liebe Anne Folkertsma, lieber Gerrit,
Hunde verstehen unsere Sprache, nicht gerade den „Tractatus logico philosophicus“, aber doch wenn wir sagen, setz dich, such den Stock oder: Komm, Gassigehen/ Braver Hund. Ich hatte als Kind einen Foxterrier namens Moritz, der, wenn man ihm ein Stück Zucker hinhielt und sagte: tanz, sich auf die Hinterbeine stellte und tanzte. Er tanzte übrigens nicht, wenn man es nicht befahl, also nicht aussprach. Eine Frage, die mich damals beschäftigte, war, ob es nicht möglich sei, bei genauem Hinhören ein wenig von seinen Lauten zu verstehen, etwa: Ich bin müde. Oder: Ich mag nicht tanzen. Gib mir das Stück Zucker - gleich. Manchmal glaubte ich, ganz nah dran zu sein an diesem Verstehen. Seine Laute, er konnte klagen, freudig kläffen, aggressiv bellen, nuanciert knurren, habe ich dann doch nicht so recht begriffen, denn er hat mich, als ich mit ihm spielen und er fressen wollte, in die Lippe gebissen. Der Vater wollte ihn erschießen.  Ich habe das mit Hilfe meiner Mutter verhindern können. Es war doch nur ein Missverständnis, zwischen ihm, dem Hund, und mir, dem Kind. Sein Knurren hatte ich nicht richtig verstanden. Ein Übersetzungsfehler meinerseits. Über merkwürdige Umwege fand Jahre später diese Situation – das Verstehen der Hundelaute - Eingang in einen Roman, der den Titel Rot trägt und den Gerrit, wie sechs weitere Romane von mir, übersetzt hat. Auf das Alphabetisieren des Bellens, als ein  Problem von Übersetzungen, werden wir noch zu sprechen kommen.  Jetzt muss erst einmal gesagt sein, dass dieser Gerrit Bussink, den ich  seit vierzig Jahren kenne, und kennen heißt, ich habe ihn mit verschiedenen Frauen und Freundinnen kennengelernt, in wechselnden Wohnungen und Häusern erlebt, allerdings noch nicht in seinem langjährigen Umbau, dem Schweinestall. Dieser Besuch steht noch aus. Gerrit ist  ein begnadeter Wohnungsfinder, der, wenn er nicht mit solcher Inbrunst dem Übersetzen anhinge, wohl ein international erfolgreicher Makler geworden wäre. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang, zwischen seinen Orts- und Wohnungswechseln und seinen Übertragungen so unterschiedlicher Novellen, Erzählungen und Romane von Thomas Bernhard, Wolfgang Hilbig, Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke, Hans Magnus Enzensberger, Christa Wolf und Botho Strauß, um nur einige Autoren der insgesamt 170 von ihm übersetzen Werke zu nennen – jenen eigenen kleinen literarischen Kosmos der zeitgenössischen deutschen Literatur, den er in das Niederländische gebracht hat. Und vielleicht findet dieses Wohnungssuchen seine Entsprechung im Suchen und Finden einer jeweils besonderen literarischen Sprache, eines niederländischen Zuhauses für die wechselnden Stimmen, auf die er sich immer wieder neu einlassen musste, so wie er selbst sich in den Werken seiner Autoren erst einmal häuslich einrichten musste, um sich in ihnen einzuleben und zurechtzufinden. Es galt jeweils die angemessene, besondere Sprache, den eigenen Ton  im Niederländischen zu finden. Wir wissen, das Übersetzen muss gelernt werden, so wie man Sprachen lernen muss und das Schreiben, aber zwischen dem, was richtig ist im Wort, was richtig ist in der Grammatik und in der Syntax, und dem was sich dann öffnet an Nuancen, klafft immer noch ein Abgrund, denn, ein Wort, wird es in eine andere Sprache übertragen, ist nur, wie Eco sagt, „quasi dasselbe“ (wobei ich hiermit natürlich  seinen Übersetzer Burkhart Kroeber zitiere). Im Übersetzen wird deutlich, was jedem Sprechen zugrunde liegt,  der Abgrund zwischen Wirklichkeit und Wort, die mehrdimensionale Ordnung der Wirklichkeit kann nicht mit der eindimensionalen Ordnung der Rede zur Deckung gebracht werden. Roland Barthes hat in seinem Essay „Lektion“, seiner  Antrittsvorlesung im Collége de France“, geschrieben: „Mit dem Umstand, dass es keine Übereinstimmung zwischen dem Wirklichen und der Rede gibt, können die Menschen sich nicht abfinden, und diese Weigerung, die vielleicht so alt ist wie  die Rede  selbst, bringt in einem unablässigen Bemühen Literatur hervor. Man könnte sich eine Geschichte der Literatur vorstellen oder besser: der Hervorbringung der Rede, die die Geschichte der – oft ganz aberwitzigen – verbalen Notbehelfe wäre, die die (wenn ich das hier einfügen darf, dieses „die, die“ sollten auch in wissenschaftlichen deutschen Übersetzungen vermieden werden ) Menschen benutzt haben, um das zu reduzieren, zu zähmen, zu leugnen oder auch das auf sich zu nehmen, was immer ein Delirium ist, nämlich die fundamentale Nicht-Adäquatheit von Rede und Wirklichem.“ S. 33
Aus diesem Ungenügen – dem Delirium – entspringt  die Arbeit an der Sprache, das Bemühen, sie auszudifferenzieren, neu zu justieren, zu variieren, neue Formen  zu finden. Es ist das  Begehren nach dem  Unmöglichen. 
Heinrich von Kleist hat diesen Zweifel, der Zugleich der Antrieb des Schreibens ist, in einem Brief an Karl vom Stein zu Altenstein beschrieben: „Wie soll ich es möglich machen, in einem Brief etwas so Zartes, als ein Gedanke ist, auszuprägen? Ja wenn man Tränen schreiben könnte – doch so – –„   Und dann hat Kleist zwei Gedankenstriche gesetzt, die ins Sprachlose führen.
Diese „Zartheit“ zu erreichen, das Unmögliche quasi, also so gut wie möglich, die Betonung liegt auf gut, zu machen, bezeichnet die Arbeit des Autors an der Sprache. Und soll der Text in eine andere Sprache gebracht werden, wiederholt sie sich in der Arbeit des Übersetzers, der versuchen muss, diese Zartheit in seine Sprache zu bringen, aber derart, dass die Besonderheit der fremden Sprache als Erstaunliches in der eigenen wieder aufscheint. Wir wissen, dass es nie ganz aufgehen kann, auch bei intensivem Suchen, dem Einfühlen und Hineinwühlen und Verwerfen, es bleibt eine Differenz, die absolute Adäquanz fristet ihre geisterhafte Existenz als Desiderat.  Das zu wissen, es dennoch zu versuchen, diese Differenz fruchtbar zu machen, ist die Würde des Übersetzers, er trägt damit, wie Derrida in „Briefe an einen japanischen Freund“ einmal ausführte, zum Wachsen der Sprache bei. 
Das nur Richtige könnte wohl jedes Übersetzerprogramm eines Computers einmal erreichen, aber das Mehr ist, die ferne besondere Stimme des Originaltextes in der anderen Sprache zu finden. Es ist das Abarbeiten – das Delirium - an der Sprache und ihrer Nichtselbstverständlichkeit. Autor und Übersetzer sind Zwillinge, etwas Brüderliches und Schwesterliches liegt in ihrer Arbeit. Und es ist darum auch eine kränkende Zurücksetzung, wird der Übersetzer nicht genannt, zumal dann, wenn in Rezensionen Abschnitte lobend zitiert werden, ohne daran zu erinnern, dass es  die Sprache des Übersetzers ist, die da gelobt wird, nicht die des Autors.  Auch das muss gesagt sein: Hin und wieder sind Übersetzungen besser  als die Originale. Wird über deutsche Literatur geredet, darf  Goethe nicht fehlen. Er hat in dem Band „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West–östlichen Divans“ einen Absatz mit der Überschrift Übersetzungen geschrieben. Darin entfaltete er drei idealtypische Formen – er spricht von Epochen, die aufeinander flogen -, zuerst die informative Übersetzung, die „schlicht prosaische“, sodann die parodistische, also die Umwandlung in das Eigene, Bekannte und schließlich die dritte und höchste Form, in der, wie Goethe schreibt,  „man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so dass eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des anderen gelten solle.“  
Dieses Andere gilt nicht nur für den korrekten Inhalt, die korrekten Worte, den Versuch, der Syntax zu folgen, sondern  - das Schwierigste - auch die ferne Stimme des Autors in seiner Prosa  wiederzugeben. Also in der literarischen Übersetzung den besonderen Klang, die Musikalität aufzuspüren. 
Von hier ist der Sprung zur Onomatopoesie recht kurz. Es gibt im Alltag diese Übersetzung der Tierlaute ins Wörtliche und, erstaunlich genug, werden diese Laute jeweils anders wiedergegeben. Weil sie in den verschiedenen Sprachen anders gehört werden, anders sich in die Sprache einfügen, anders im Alphabet notiert werden. 
In dem von Gerrit Bussink übersetzten Roman „Rot“ erzählt ein Linguist, der sein Geld als Taxifahrer verdient – und wir kommen jetzt buchstäblich auf den Hund –  das Bellen der Hunde klinge im Englischen anders als das deutsche Wau, Wau. Und das englische Bellen, das Wuff, Wuff, sei vor dem Ersten Weltkrieg ein anderes gewesen, nämlich dem deutschen Wau, Wau ähnlich.
Ich habe in Gerrits Übersetzung nachgeschlagen und entdeckt: Er hat das englische Wuff, Wuff mit woef, woef wiedergegeben, wie man in den Niederlanden die Hunde bellen lässt. Ich habe das einer an der Universität Adelaide von Derek Abbott’s erstellten Tabelle für Animal sounds entnommen und gelernt: Die Engländer haben, im Gegensatz zum Deutschen und dem Niederländischen, eine Vielzahl von Hundelauten, mehr als andere Nation. Es gibt dafür sicherlich gute Gründe,  die Fuchsjagd und die Schleppjagd, große Hunde zur Bewachung von Schafen, kleine, struppige stöbern kampfstark Ratten in Abflussröhren auf und putzen dabei mit ihrem Fell auch noch die Röhren, Hunde mit großen und kleinen Schlappohren, Hunde mit krummen und kurzen Beinen,  Bulldoggen, Schoßhunde, und natürlich bringt dieser Artenreichtum, diese Züchterleidenschaft, auch eine  ausdifferenzierte Wiedergabe der Lautformen der Hunde mit sich,  es gibt ein dog barking für small dogs, eins für medium dogs, eins für big dogs. Ich gebe ein paar der angeführten Beispiele: Yap, yap. Arf, arf.  woff, woff. Bow, wow, bow, wow. Wie arm ist dagegen das deutsche Wau, Wau. Aber auch das Niederländische hat nicht viel mehr zu bieten.   Da die Größe des Hundes in dem Roman Rot nicht genannt wird, hat Gerrit sich wohl für den englischen medium dog entschieden und den dann auf Niederländisch bellen lassen, also woef, woef.  Er hat also nach der Goethischer Systematik die parodistische Form gewählt. So nuancenreich kann das Übersetzen sein.
In dem von Gerrit zuletzt übersetzten Timm-Roman „Vogelweide“, für den er jetzt den Nordrhein-Westfälischen Übersetzerpreis  erhält,  haben wir anfallende Fragen über Mehrdeutigkeiten, Verweise, Bedeutungsschatten telefonisch besprochen, auch das ein Zeichen einer über fast vierzig Jahre gewachsenen Vertrautheit, die zu einer Freundschaft wurde. 
Es gab diesmal nur wenige Problemfälle. Ein Problemfall für andere Sprachen – das Wort „Watt“, das im Roman „Vogelweide“ eine zentrale Bedeutung hat, – konnte einfach mit „Wad“ ins Niederländische übersetzt werden.  Der niederländische Leser weiß, was gemeint ist. Nicht aber in den Ländern, wo es kein Watt gibt und damit auch kein entsprechendes Wort,  wie beispielsweise in der Türkei oder Italien. Ein zentrales Problem für das Niederländische Publikum war der Titel „Vogelweide“. Ein Wort, das im Deutschen einen historischen Hallraum hat. Nicht nur erinnert es den gebildeten Leser an Walther von der Vogelweide, sondern es ist verbunden mit dem Mittelalter, mit dem Bereich vor der Burg, wo die Falken abgerichtet wurden. Und ein  Falke spielt in dem Roman „Rot“ eine  „reale“ und eine poetologische Rolle. Wir, das schließt den Verleger von Podium, Joost Nijsen ein, haben gegrübelt, wie dieser Titel zu übersetzen sei, der, da war man sich einig,  in seiner Bedeutung und Aura nicht verstehbar wäre.  So kam es zu dem Titel „De Macht van Begeerte“.
Es ist ein eher etwas sachlicher Titel, der aber für mich beides umfasst, das erotische Begehren, um das der Roman kreist, aber eben auch das Begehren, die Sprache der Wirklichkeit anzunähern, ihr den Glanz zu geben, auf den die sorgsame, feinfühlige Arbeit von Gerrit Bussink sich richtet. Wie schön, dass seine langjährige Arbeit mit diesem Preis ihre Anerkennung findet.