Grußwort Jury
Die Goldammern in den Folterkammern
Wenn das Original von Viktor Martinowitschs Roman Paranoia an die stilistische Reichhaltigkeit der Übersetzung von Thomas Weiler heranreicht, dann kann man der russischen Literatur nur gratulieren. Das mag an den Satz von Borges’ erinnern, der in einer Rezension schrieb: „Das Original wird der Übersetzung einfach nicht gerecht.“ So weit würde ich schon allein aus Unkenntnis der russischen Sprache nicht gehen, aber in dem Satz von Borges ist etwas angelegt, das für uns hier und heute wichtig ist: Beim Wettkampf der Spitzenwortler kommt es auf das Deutsche an.
Die Russischübersetzerin und Jurorin Mascha Tietze hat mal geschrieben: „Die Stimme des übersetzenden Interpreten hat ihr eigenes Timbre“. Man kann auch sagen: Eine gute Übersetzung legt selbst die Regeln fest, nach denen sie gut ist. Und Thomas Weiler hat die Messlatte zur Beurteilung dieser Regeln verdammt hoch gelegt.
Paranoia erzählt eine Liebe in den Zeiten der Diktatur. Diese Antiutopie erinnert in ihrer Mischung aus Absurdität und ‚traumverkleisterten’ (225) Todesahnungen weniger an Orwells 1984 als an Nabokovs Bastardzeichen, und ihre Brutalität ist bis in die Metaphern und Vergleiche hinein zu spüren: ‚Wir wurden vorangetrieben wie Gehacktes aus dem Fleischwolf’ (vgl. 94). Dass der Schauplatz des Romans wahrscheinlich Minsk ist und dass hinter dem fiktiven Diktator Murawjow Weißrusslands Lukaschenka zu erkennen ist, soll uns hier nur am Rande interessieren. Wichtig ist, dass sich der Schriftsteller Anatoli „Hals über Kopf, Herz über Hirn“ (211) in Jelisaweta verliebt, die auch die Geliebte des Diktators ist, weswegen Anatoli nun von der Staatssicherheit abgehört wird.
Martinowitsch schreibt alles in seinen Roman hinein: die Lyrismen einer zarten romantischen Liebesgeschichte und die Observationsprotokolle, den Gesang der Nachtigallen und das Schimpfen der Rohrspatzen.
Da gibt es voller Sinnlichkeit und Komik rekonstruierte Mikrobeobachtungen – „die Zugluft ließ am Lüster ein zartes Fädchen baumeln, an dem eine wagemutige Spinne surfte“ (40). Da gibt es herrlich verrutschte und missglückte Formulierungen in Abhörprotokollen (und es ist ja eine Kunst für sich, das Falsche richtig falsch zu übersetzen): „sie gaben sich nach vorheriger Erzeugung von Schmatzgeräuschen einer Bettszene hin, in welcher sie für 35 Min. verblieben. Anschließend erholten sie sich 7 Min. und setzten dann die Ankleidung fort, die dieses Mal von Erfolg gekrönt war.“ (220) Da gibt es immer wieder eingestreute Wortspiele, wenn etwa „Adam über Eva: Madame süßer Käfer“ (188) sagt.
Thomas Weiler ist der beglückende Fall eines Übersetzers, der aus dem Vollen seiner Muttersprache schöpft, und wir zeichnen ihn voller Begeisterung, mit großer Bewunderung und – dies die unvermeidliche Hypothek – gespannter Erwartung seiner künftigen Übersetzungen mit dem Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis 2017 aus.
(Ulrich Blumenbach)
… und mir, liebe verehrte Damen und Herren, ist es nun ein großes Vergnügen, auch im Namen der Jury unsere Hauptpreisträger zu begrüßen, Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Sie haben die Stilübungen von Raymond Queneau neu übersetzt, einen Klassiker der französischen experimentellen Literatur, in dem eine eigentlich unerzählenswerte Geschichte immer wieder variiert wird, mal als salbungsvolle Ode, mal als ordinäres Geschimpfe, mal als Behördenbrief, mal als Schauerroman erzählt wird.
Sie haben sich nicht verhört. Ich habe eben wirklich gesagt, dass die Geschichte, die diesem Werk zu Grunde liegt, unerzählenswert ist. Sie könnte vom Inhalt her kaum banaler sein, es geht um eine Rempelei in einem Pariser Omnibus. Queneaus Werk hat keine spannende Handlung; kein Thema, von dem man sofort erkennt: Ah, das ist jetzt wirklich ein wichtiges Buch. Die Stilübungen entfalten ihren Zauber durch nichts anderes als durch ihre Sprache.
Genau hierin liegt die enorme Herausforderung für das Übersetzen. Wenn es keinen Plot, kein vordergründig relevantes Thema gibt, hinter dem man die eine oder andere stilistische Nachlässigkeit verstecken kann, steht man als Übersetzer vollkommen nackt da. Man kann sich auf nichts anderes verlassen als auf seine übersetzerische Kernkompetenz: die Fähigkeit, mit Sprache zu arbeiten. Und was Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert da geleistet haben, hat uns – als mehrheitlich aus Übersetzerinnen und Übersetzern bestehende Fachjury – hellauf begeistert!
Kaum eine der Miniaturen aus Queneaus Stilübungen gleicht einer anderen. Sie unterscheiden sich so sehr voneianander, dass Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel jeden Tag ganz von vorn anfangen mussten. Erst mussten sie durch gründliche Textanalyse überhaupt erst einmal feststellen, um welchen Stil, welchen Erzählton, welche Perspektive es sich eigentlich handelt, dann mussten sie diese analytische Genauigkeit auch gleich schon wieder vergessen – schließlich ist der Titel Stilübungen – exercices de style – eine ziemliche Untertreibung, handelt es sich doch hier keineswegs um ein trockenes Lehrwerk, sondern um ein genialisches Spiel, das die Möglichkeiten von Sprache bis ins letzte Extrem treibt.
Und dieses Spiel ist Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel wunderbar gelungen. Ihre Übersetzung feiert auf jeder Seite den Reichtum der deutschen Sprache. Sie haben das große Kunststück vollbracht, genau hinzusehen und sich dann mit ansteckender Begeisterung die dollsten Eskapaden zu leisten. Es ist ihnen gelungen, ebenso präzis zu sein wie wild. Im einen Moment Schweizer Uhrmacher zu sein, im nächsten ausgelassen tanzende Partymaus.
Aufgrund dieser herausragenden übersetzerischen Leistung wird Leserinnen und Lesern ziemlich bald klar, dass es sich hier – bei aller vordergründigen Zweckfreiheit des Erzählens – keineswegs um ein banales Werk handelt, wendet es sich doch gegen jeden Absolutheits-Anspruch von Sprache, gegen jedes totalitäre So-Ist-Es, gegen jedes Man-Wird-Doch-Wohl-Noch-Sagen-Dürfen. Wer mit Sprache spielt, lässt sich nicht so leicht einreden, was er denken soll.
Wir freuen uns sehr auf diesen Abend.
(Kristof Magnusson)