Juryrede Luis Ruby
Sehr geehrter Herr Prof. Sternberg, sehr geehrte Frau Dr. Hendricks,
liebe Dagmar Fretter,
liebe Helga van Beuningen, liebe Anna-Nina Kroll,
meine verehrten Damen und Herren,
in Rezensionen von Anna Burns' Milchmann wird gerne eine Szene erwähnt, in der ein Französischkurs mit seiner Lehrerin in Streit gerät, weil die Kurslektüre einen Himmel beschreibt, der nicht einfach blau ist. Und trotz eines Turnerschen Wolkenspektakels vor den Fenstern bleibt diese Behauptung inakzeptabel:
Es hatte sich eingebürgert, solche Details nicht zuzugeben, denn das hätte freie Wahl bedeutet, und freie Wahl hätte Verantwortung bedeutet, und was, wenn wir dieser Verantwortung nicht gerecht werden konnten?
Wie im fiktionalisierten Belfast, so in der Literatur überhaupt: Der Himmel ist nicht immer blau, und das birgt Risiken. Übersetzer, Übersetzerinnen haben die freie Wahl. Und die Verantwortung. Einem Original treu zu bleiben, wo es befremdet, erfordert Mut. Übersetzungskunst versteckt sich freilich nicht hinter dem Original, sondern realisiert die Doppelbödigkeit des Unterfangens und gestaltet, um dem fremden, eigenen Text gerecht zu werden.
The day Somebody McSomebody put a gun to my breast and called me a cat and threatened to shoot me was the same day the milkman died.
Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.
So beginnt ein Buch voller Eigenheiten, angefangen mit den Platzhalter-Namen der Figuren an Stelle von Eigennamen. In einer gespaltenen und zugleich hochtraditionellen Gesellschaft wird Individualität von den Positionen in Familie und Gesellschaft überlagert.
In dem zitierten Anfangssatz erlaubt sich Anna-Nina Kroll eine minimale Abweichung: Somebody McSomebody wird nicht einfach Irgendwer McIrgendwer, er ist auf Deutsch Irgendwer McIrgendwas. Vom Rhythmus bleibt sich das gleich. Worum geht es bei dieser übersetzerischen Entscheidung? Irgendwas (no pun intended) klingt weniger statisch als die wörtliche Alternative, verspielter, aber keinesfalls beliebig. Es klingt nach Absicht, und zwar einer doppelten: der Absicht des Originals, Figuren auf diese Weise zu benennen – und der Absicht der Übersetzung, dies ebenfalls zu tun, ohne in Ehrfurcht zu erstarren.
Die Übersetzerin spielt selbstbewusst und wortschöpferisch mit, bildet den Fluss komplexer Sätze und Gedankengänge nach, mit einem klaren Gefühl für Rhythmus – und einem beachtlich langen Atem. Denn dieser schnelle, vielseitige Text legt, ehe man sich's versieht, 450 Seiten zurück. Zweifellos war die Strecke bei der Arbeit zu spüren, während die Lektüre durchgehend ein Genuss ist: Chapeau vor der Konsistenz, dem anhaltenden Elan dieser Übersetzung.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen abschließend eine Stelle vorlesen, in der die irrwitzigen Verhältnisse dieser fiktiven Welt auch komisch erscheinen – einer der überraschendsten Vorzüge eines beklemmenden, Düsteres erleuchtenden Romans.
Von Milchmann bedrängt, beschließt die Erzählerin, mit ihrem Lieblingsschwager joggen zu gehen.
Das Haus von Schwager Drei lag auf dem Weg zum Park, und als ich darauf zulief, war alles wie erwartet: Schwager stand in seiner Joggingmontur im Vorgarten und wärmte sich auf. [...] Schließlich sagte er, ohne mich anzusehen [...]: »Wir machen heute zwölf Kilometer.« »Gut«, sagte ich, »zwölf Kilometer.« Damit hatte er nicht gerechnet. Ich hätte eigentlich das Gesicht verziehen und sagen sollen, dass wir ganz bestimmt keine zwölf Kilometer laufen würden, um anschließend autoritär und göttinnengleich zu bestimmen, wie viele Kilometer wir stattdessen laufen würden. Aber in Gedanken war ich beim Milchmann, deswegen war mir egal, wie viele Kilometer wir liefen. [...] »Hast du gehört, Schwägerin? Ich hab gesagt: fünfzehn Kilometer. Siebzehn. Neunzehn Kilometer laufen wir.« Das war mein Stichwort, ich sollte widersprechen, auf die Barrikaden gehen. Normalerweise hätte ich ihm den Gefallen getan, aber in dem Augenblick hätten wir meinetwegen einmal quer durchs Land rennen können, bis das leiseste Husten – egal, von wem – uns die Beine abfallen lassen würde. Ich versuchte es trotzdem. »Ach, Schwager, nein«, sagte ich. »Keine neunzehn Kilometer.« »Doch«, sagte er, »einundzwanzig Kilometer.« Ich hatte mir offenbar nicht genug Mühe gegeben. Schlimmer noch, meine Scheißegalhaltung brachte ihn [...] richtig in Rage. [...] Für ihn mit seinem Widerspruchsbedürfnis war wie für mich mit meiner Milchmannsorge die Länge der Strecke das Unwichtigste der Welt. Es ging ihm nur darum, dass ich ihn nicht herumkommandiert hatte. »Ich bin ja niemand, der andere gern herumkommandiert«, setzte er gerade an, was bedeutete, dass wir nun eine ganze Weile mit einseitigem Feilschen zubringen würden, doch dann betrat seine Frau, meine dritte Schwester, den Vorgarten.
»Rennen!«, schnaubte sie verächtlich, und stand in ihren Röhrenjeans und Flipflops da, jeden Zehennagel in einer anderen Farbe lackiert. Das war lange bevor sich auch der letzte Depp die Zehennägel in allen Farben lackierte. Sie hatte ein Glas Bushmills in der einen und ein Glas Bacardi in der anderen Hand, weil sie noch nicht wusste, was davon ihr erster Drink des Tages werden sollte. »Ihr beiden habt echt ein Rad ab«, sagte sie. »Ihr seid doch verklemmte Kontrollfreaks. Zwangsgesteuerte, überpenible Spinner, die ... Und überhaupt, was für ein Volltrottel muss man bitte sein, um rennen zu gehen?«
Einundzwanzig Kilometer, ein Halbmarathon? Ja, das könnte hinkommen. Der diesjährige Förderpreis honoriert eine ausdauernde und reife Leistung.
Ich freue mich sehr, dass das Europäische Übersetzerkollegium und die Kunststiftung NRW eine Feier in Präsenz arrangieren wollten und konnten und gratuliere Dir, liebe Anna-Nina, nochmals herzlich zu dieser verdienten Auszeichnung.